Ute Klarius im Gespräch
mit Thimo Fries (Bosch)

Liebe Frau Klarius, was haben Fechten und Eignungsdiagnostik für Sie gemeinsam?

Ute Klarius: Gleich eine schöne Frage zum Einstieg. Zumal ich ja tatsächlich über den Leistungssport im Fechten – es waren fast 12 Jahre – zur Psychologie gekommen bin. Mich hat schon immer die Frage gereizt, wie die moderne Psychologie das Erreichen von Spitzenleistungen unterstützen kann. Idealerweise „auf den Punkt“. Beispiel: Wenn das olympische Finale im Florettfechten an einem Donnerstag 18.00 Uhr stattfindet, gilt es, genau dann seine Bestleistung zu zeigen. Sonst muss man wieder 4 Jahre auf die Chance, Olympiasieger zu werden, warten. In der Arbeitswelt gibt es ähnliche Situationen: schwierige Vertrags­verhandlungen, zum Beispiel, Handlungs­situationen oder sehr wichtige „Auftritte“ mit Öffentlichkeits­wirksamkeit (z.B. im Wahlkampf). Unter anderem.

Gemeinsamkeiten zwischen Fechten und Eignungs­diagnostik?
Wahrscheinlich haben Sie eine „hohe Treffsicherheit“ im Hinterkopf. Das trifft zweifelsfrei zu. Als ein Ergebnis guter Ausbildung und dem Einsatz geeigneter Methoden. Selbstverständlich unter Beachtung der bestehenden (Wettkampf-) Regeln – in der Eignungsdiagnostik auch rechtlicher Art.

Wir haben uns ja über Ihren Artikel auf eignungsdiagnostik.info kennengelernt. Der lautet: „Sind kognitive Tests beim Besetzen von Management-Positionen unpopulär? – Gedankensplitter von Dipl.-Psych. Ute Klarius –”

Dort schildern Sie typische Einwände gegen kognitive Leistungstests. Lassen Sie uns doch bitte ein wenig eignungs­diagnostische Argu­mentations­lehre üben. Ich spiele den Skeptiker. Sie antworten in Ihrer Rolle. In Ordnung?

Ute Klarius: Machen wir. Aber gestatten Sie eine kurze Vorbemerkung. Das Gewinnen von Skeptikern beginnt viel früher. Zum einen bei der Art und Weise, wie wir als Eignungsdiagnostiker auftreten. Unser Auftraggeber muss uns als Fachmann/ Fachfrau akzeptieren und uns vertrauen. Das gelingt, in dem wir klarerweise unser Fachgebiet beherrschen und gleichzeitig seine Sprache sprechen. Ihm Zuhören. Sein Kerngeschäft verstehen (Stichwort Anforderungsprofil!). Ihm zeigen, dass wir „unmittelbar nützlich“ sind und Probleme mit anpacken.

Ich begegne häufig Fachkollegen (auch aus den Personalbereichen), die unzufrieden damit sind, dass sie „vom Management jedes mal so spät oder gar nicht einbezogen werden“. Das hängt immer auch mit einem selber zusammen. Je stärker man im Gedächtnis seiner „Mitstreiter“ als wertvoller „Problemlöser“ präsent ist, umso schneller kommen diese auf die Idee uns frühzeitig an Bord eines Projekts zu holen.

Zum anderen haben wir sicher Verbesserungsbedarf beim Erklären unserer Methoden und deren Nutzen. Das lässt sich wunderbar mit einer Einwandvorwegnahme kombinieren – nach dem Motto „Vielleicht fragen Sie sich jetzt, weshalb wir gerade solche Aufgaben/ Methoden nutzen. Das hängt damit zusammen, dass….“ Wenn wir so vorgehen, hat das folgende Vorteile…“ Gerade junge Kollegen tun sich mit prägnanten, praxisnahen Erklärungen oft schwer.

OK – Verstanden. Das kommt mir bekannt vor. Aber 1-2 Argu­mentations­linien hätte ich doch ganz gern. Zum Beispiel bei diesem Einwand: „Mit einem so hochdotierten Bewerber können wir doch keinen Intelligenztest machen. Wir sind froh, dass er Interesse an uns hat.“

Ute Klarius: Das würde ich z.B. sagen:
Ja – der CV ist wirklich top. Jetzt wäre noch wichtig, ob in der neuen Position komplexe Entscheidungen getroffen werden müssen. Und ob mit Zeitdruck zu rechnen ist. Wenn ja – sollten wir noch einen Check dieser Bereiche in den Auswahlprozess aufnehmen. Das geht problemlos auch virtuell.

Sehr schön. Jetzt wird’s aber kritisch für die Eignungs­diagnostik. Einwand Nr. 2: „Dass hier jeder im Management hochintelligent ist, können wir wohl voraussetzen. Sonst wäre er ja nicht in dieser Position.“

Ute Klarius: Eine Möglichkeit wäre hier, zukunfts­gerichtet zu argumentieren: Darum geht es auch gar nicht. Ziel ist es ja, sich auf die neuen (ggf. höheren ausgeprägten) Anforderungen bestmöglich vorzubereiten. Dazu brauchen wir ein genaues Bild zum Status Quo. Um anschließend in die richtigen Maßnahmen zu investieren.

Und gleich noch ein Drittes: „Bei so einem CV ist ein Test schlichtweg eine Beleidigung. Das geht nun wirklich nicht. Ein Gespräch muss reichen.“

Ute Klarius: Sollte ein Auftraggeber wirklich darauf bestehen, dass wir lediglich ein Gespräch führen, sollte man so mutig sein, den Auftrag abzulehnen. Natürlich mit Erklärung dazu. Aber so etwas ist einfach fachlich falsch.

Es gibt viele erfolgsrelevante Aspekte, die nur mit Hilfe eines Gesprächs schlichtweg nicht prüfbar sind. Jeder qualifizierte Eignungs­diagnostiker weiß das. Ansonsten gilt, was wir vorhin schon hatten. Das Gewinnen von Skeptikern beginnt schon ganz früh. Das ist nur mit zwei oder drei geschliffenen Sätzen nicht gemacht.

Wie wird Eignungs­diagnostik zum Verkaufs­argument?

Ute Klarius: Ich glaube zunächst, dass dieser Begriff häufig zu eng gesehen wird. Die meisten bringen damit lediglich die klassischen Stellen­besetzungen in Verbindung. Eignungs­diagnostische Untersuchungen – umgangssprachlich gern auch als Potenzialanalyse bezeichnet – haben aber viel mehr Einsatz­möglichkeiten. Angefangen von einer Standort­bestimmung zu Beginn eines Management-Qualifizierungs­programms über eine individuelle Karriereplanung, die zu den eigenen Leistungs­merkmalen bestmöglich passt, bis hin zur optimalen Zusammen­stellung von Projektteams, in denen sich die Projekt­mitarbeiter gegenseitig ergänzen.

Außerdem gilt es, diese vielen verschiedenen Einsatzgebiete mit ihrem jeweiligen konkreten Nutzen viel stärker „auf den Punkt zu bringen“ und mit konkreten Zahlen zu arbeiten. Das versteht jeder Unternehmer. Beispiel „Mindestkosten einer Fehlbesetzung“: mindestens 6 Monats­gehälter (Ende der üblichen Probezeit) + spezieller Einarbeitungs- und Führungsaufwand (Personal, Kollegen, Vorgesetzter…) + Unruhe im Team + Aufwände/Kosten für die Neusuche + wieder neue Einarbeitung + ggf. zwischenzeitliche Gewinneinbußen durch die personelle Lücke …

Da kommen sehr schnell hohe Beträge zustande, die die Kosten für ein professio­nelles Auswahl­verfahren bei weitem übersteigen. Was sicher keine gute Idee ist: alle Personal­probleme mit Eignungsdiagnostik lösen zu wollen. Das wäre auch fachlich völlig falsch. Liegen grobe Führungs- und oder Orga-Fehler vor (z.B. Stichwort Führungsspanne), gilt es zunächst dort anzusetzen.

Intelligenz ist unschlagbar um Leistung vorherzusagen. Aber: Intelligenz ist auch ein sehr stabiles Persönlichkeits­merkmal im Erwachsenen­alter. Ist das nicht ungerecht gegenüber weniger leistungs­fähigen Menschen – die dafür ja nichts können? Führt das nicht ohne Umwege in die Meritokratie?

Ute Klarius: Dazu möchte ich zwei Dinge unterstreichen:

1. Intellekt oder auch kognitive Leistungs­voraussetzungen sind nicht wichtiger als Leistungs­merkmale auf der Verhaltensebene. Was nützt einem Unternehmen ein intellektueller Überflieger, der sich an keine Absprachen hält, ständig zu spät kommt oder laufend Widerstand erzeugt, in dem er andere belehrt? Wenig bis nichts. Also: Intellekt allein hilft überhaupt nichts. Das wird in unserer Gesellschaft schlichtweg überschätzt.

2. Sicher ist in vielen Jobs eine Mindest­ausprägung der kognitiven Leistungs­voraus­setzungen günstig. Das gilt aber auch für andere Merkmale, die fachliche Qualifikation und die sozialen Fertigkeiten. Was soll daran ungerecht sein? Sie merken schon, ich halte diese Überbetonung des Intellekts im Zusammenhang mit eignungs­diagnostischen Fragestellungen allgemein für falsch. Dass sie in bestimmten Aufgaben­gebieten wichtig sind, ist unbestritten.

Stichworte Intuition, Bauchgefühl, Beurteilungs­tendenzen (biases): Wie kann Sie eine Bewerberin oder ein Bewerber beeindrucken?

Ute Klarius: Mich beeindrucken – wenn Sie dieses Wort wählen möchten – Bewerber, bei denen man ein Leuchten in den Augen sehen kann, wenn sie über ihren Job sprechen. Oder ihre Vorhaben. Wenn echte Begeisterung erkennbar ist. Das finde ich richtig, richtig gut. Ansonsten gehöre ich nicht zu den Personen, die meinen, aufgrund ihrer langjährigen Berufserfahrung auf den ersten Blick zu wissen, ob der Bewerber ins Unternehmen passt. So etwas zeugt nur von Unwissenheit und Selbst­überschätzung. Ohne Hilfsmittel kann das niemand.

Anschlussfrage: Wie gehen Sie generell mit Selbst­darstellungs­tendenzen um?

Ute Klarius: Ich lege sehr viel Wert auf eine möglichst verhaltensbasierte Operationalisierung der Prüf­merkmale in einem eignungsdiagnostischen Prozess. Bezogen auf die einzelnen Bewertungs-Stufen. Also z.B. welches Verhalten muss ein Bewerber im Prüfmerkmal „Konfliktfähigkeit“ zeigen, um mit „entspricht voll den Anforderungen“ bewertet zu werden?

Mit diesem und anderen Hilfs­mitteln und der Konzentration auf die jeweiligen Prüfmerkmale schützt man sich vor den üblichen Beurteilungs­fehlern, vor denen niemand gefeit ist. Wir sind alle Menschen.

Lassen Sie uns doch zum Ende einen Blick in die Glaskugel werfen: Wie geht es weiter mit der berufs­bezogenen Eignungs­diagnostik?

Ute Klarius: Vor uns liegen hochinteressante, spannende Zeiten. Unsere Expertise wird weiterhin überall gebraucht. Davon bin ich überzeugt. In einigen Bereichen werden uns die technischen Möglichkeiten vieles leichter machen. Was ja jetzt schon der Fall ist. Ich kenne nur noch wenige Kollegen, die klassisch mit paper-pencil Versionen arbeiten.

Andererseits werden wir zügig Fragen klären müssen. Sowohl methodische als auch ethische und rechtliche. Wenn wir an Themen wie Big Data, KI oder Remote-Verfahren denken. Momentan habe ich den Eindruck, dass wir uns als Eignungs­diagnostiker viel zu passiv gegenüber jenen (Software-) Anbietern verhalten, die versprechen, z.B. mithilfe weniger Minuten Video- oder Stimm-Analyse den geeigneten Kandidaten zu identi­fizieren. Alles rein KI-basiert und selbst­verständlich wissenschaftlich geprüft und rechtlich sicher. Das ist einfach Unsinn. Hier müssen wir viel stärker „Flagge zeigen“. Auch über entsprechende (DIN-) Normen.

Wenn ich mir etwas wünschen darf: Wir sollten uns als Eignungs­diagnostiker noch deutlich stärker im Management zeigen. Als Fachleute, die echt ihr Handwerk verstehen und praktische Probleme lösen können. Wissen­schaftliche Diskussionen sind gut und wichtig. Eine Belehrung oder noch schlimmer Diskussion im stillen Kämmerlein zu den verschiedenen statis­tischen Methoden der Reliabilitäts­prüfung wird allerdings in einem Unternehmen, das gerade echt mit Personal­problemen kämpft, kaum akzeptanzsteigernd wirken…

Die CBS International Business School Mainz z.B., an der Studierende bei mir das Fach „Eignungs­diagnostik“ besuchen, hat zu Beginn unserer Zusammenarbeit 2018 ganz klar den Wunsch geäußert, die Vorlesung sehr stark an der Praxis/ den modernen Entwicklungen auszurichten. Diesen Weg finde ich für unsere jungen Berufskollegen genau richtig: Begeisterung wecken, Wissen und Selbst­bewusstsein vermitteln, auf die konkreten eignungs­diagnostischen Frage­stellungen im Unternehmen vorbereiten. Da arbeite ich sehr gern mit!